Jemen: „Es waren oft schreckliche Verletzungen“

22.06.2016
Anästhesist Helmut Shoengen berichtet von seinen Erfahrungen in unserem chirurgischen Notfallzentrum, in dem wir innerhalb eines Jahres 8.000 Verletzte aufgenommen haben.
Aden besieged
Guillaume Binet/MYOP
Emergency room in Aden hospital.

Seit dem Beginn des Krieges im Jemen im vergangenen Jahr wurden viele Gesundheitseinrichtungen im Land beschädigt oder zerstört. Sich ständig verschiebende Frontlinien und die starke politische Unsicherheit machen den Zugang zu dringender benötigter medizinischer Hilfe für viele Menschen unerreichbar. Wir unterstützen bzw. betreiben im Jemen 30 Krankenhäuser in acht Provinzen. Unser Anästhesist Helmut Shoengen berichtet auf eindrückliche Weise von seinen Erfahrungen in unserem chirurgischen Notfallzentrum, in dem wir innerhalb eines Jahres 8.000 Verletzte aufgenommen haben.

„Es war das erste Mal, dass ich mit Verletzungen konfrontiert war, die durch Schusswaffen, Granaten oder Minen verursacht worden waren – und es waren oft schreckliche Verletzungen. Wir haben vor allem schwer verletzte Patienten behandelt. Männer, Frauen und auch Kinder. Sie kamen mit Schusswunden am Kopf, im Brustkorb oder Bauchraum, an Armen und Beinen zu uns. Verletzungen durch Granaten waren besonders schlimm, da sie oftmals auch Verbrennungen im Gesicht bedeuteten. Aber am schlimmsten ging es den Minenopfer, denen Gliedmaßen abgerissen worden waren“, berichtet Helmut Shoengen.

„Eine Amputation war oft alles, was wir machen konnten“

Vereinzelt kamen Patienten von weit her zu uns. Nachdem sie eine Verletzung erlitten hatten, mussten sie mehrere Stunden unter Schmerzen reisen. Und wenn sie bei uns ankamen, war eine Amputation oft alles, was wir machen konnten. Und man kann sagen, dass sie noch Glück hatten, weil sie es bis ins Krankenhaus geschafft haben. Auf unseren Visiten auf der Krankenstation erlebten wir auch, dass Amputationen der unteren Gliedmaßen erhebliche psychische Folgen mit sich bringen.

Große Unterschiede zwischen Projekten von Ärzte ohne Grenzen

Die Arbeit in Aden war Helmut Shoengens zweiter Einsatz mit uns. 2015 war er in einem chirurgischen Projekt in Jahun in Nigeria. Die Situation dort war jedoch eine ganz andere: „Das sind zwei sehr unterschiedliche Projekte. Es handelt sich zwar in beiden Fällen um etablierte Krankenhäuser, aber das Projekt in Aden ist seit dem Beginn des Konflikts im vergangenen Jahr ein Notfall-Traumazentrum. In Nigeria nutzt Ärzte ohne Grenzen einen Teil eines Krankenhauses des Gesundheitsministeriums in Jahun. Dort haben wir fast ausschließlich Geburtshilfe geleistet und Neugeborene behandelt. Das Ziel des Projekts dort ist die Verringerung der Mütter- und Säuglingssterblichkeit und die Behandlung von gynäkologischen Notfällen. Es gab immer sehr viel zu tun. Täglich kamen 10, 20, manchmal noch mehr Patientinnen und Patienten zu uns. Manche von ihnen kamen in letzter Minute, wurden bereits von Krämpfen geschüttelt, hatten Blutungen oder bereits mehrere Tage schwere Wehen hinter sich. Die Patienten in Jahun kamen also konstant in unser Projekt, in Aden kamen sie eher in Wellen. Es gab Tage, da war es so ruhig, dass man dachte, die Kämpfe hätten endlich aufgehört. Aber schon am nächsten Tag fing alles wieder von vorne an.

Es gab keine „typischen“ Tage

Es gab zwar Routineaufgaben, aber ich wusste, dass ich zu jeder Tages- und Nachtzeit von den Ärztinnen und Ärzten oder dem Pflegepersonal gerufen werden könnte. Das passierte auch sehr oft.

Die hohen Zahlen an gleichzeitig eintreffenden Verletzten erforderten von dem medizinischen Team in Aden die Einteilung der Patientinnen und Patienten in vier Kategorien: Schwarz für diejenigen, die nicht mehr gerettet werden konnten; Rot für diejenigen, die dringend operiert werden mussten; Gelb für jene, deren Behandlung bis zu zwölf Stunden warten konnte; und Grün für all jene, die laufen konnten, was vermuten ließ, dass sie nur leicht verletzt waren. Auch aus diesem Grund sind die Einsätze von Chirurgen oder Anästhesisten in Projekten von Ärzte ohne Grenzen meist nur vier bis sechs Wochen lang.

Es ist sehr anstrengend in den Projekten zu arbeiten. Du bist quasi sieben Tage die Woche 24 Stunden am Tag im Einsatz. Das ist okay, wenn der Zeitraum begrenzt ist. Aber über einen längeren Zeitraum hält man das nicht durch. Bei dieser Arbeit wird einem aber klar, welch leichten Zugang zu einer unvorstellbar guten Gesundheitsversorgung wir Zuhause haben. Das macht einen sehr demütig. Ich denke nicht, dass es besser oder sinnvoller ist, in einem Ausnahmezustand statt in einem geregelten Umfeld zu arbeiten. In einem geregelten Umfeld leistet man auch gute Arbeit und macht für einen bestimmten Patienten zu einer bestimmten Zeit den Unterschied. Und genau das macht man auch in einer Notfallsituation. Du veränderst nicht die Welt, aber zu diesem bestimmten Zeitpunkt machst du einen großen Unterschied für diesen einen Patienten, den du behandelst.

Ärzte ohne Grenzen arbeitet seit 1986 im Jemen, wo Armut und Unsicherheit den Zugang zu medizinischer Hilfe erschweren. Seit dem Beginn des Krieges im März 2015 wurden viele Gesundheitseinrichtungen im Jemen beschädigt oder zerstört. Vielerorts ist das medizinische Personal geflohen. Zudem sind die Transportmöglichkeiten aufgrund der hohen Treibstoffpreise und der Unsicherheit auf den Straßen sehr begrenzt. Wir haben den lokalen Krankenhäusern mit Hilfe des Gesundheitsministeriums dringend notwendige Unterstützung zukommen lassen und sind zurzeit mit 2.020 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Einsatz.