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Indien: Aus für die Apotheke der Armen durch Pharma-Handelsabkommen?
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Es scheint keine Woche zu vergehen, ohne dass sich der Westen – Regierungen, Pharmakonzerne und Wirtschaftszeitungen – lauthals über Indiens Umgang mit geistigem Eigentum beklagt: Indien wird vorgeworfen, Geschäftsinteressen durch seine Patentgesetze zu schädigen. In Übereinstimmung mit internationalen Handelsabkommen enthalten diese Gesetze Bestimmungen, die einen Schutz gegen unnötiges Patentieren von Medikamenten darstellen und einen Wettbewerb durch Hersteller von Generika zulassen. Als Arzt, der eine medizinisch-humanitären Position einnimmt, verteidige ich Indien natürlich: Wettbewerb zwischen verschiedenen Herstellern sorgt für niedrigere Preise und einen besseren Zugang zu lebensrettenden Medikamenten. Doch vielleicht können die indischen Hersteller bald keine Qualitäts-Generika mehr produzieren, die für Patienten in Entwicklungsländern zugänglich sind.
Pharma-Firmen gehen gerichtlich gegen Indiens Schutzbestimmungen vor. Bayer versucht, rigoros dagegen vorzugehen und den Genehmigungsprozess zu verzögern, der notwendig ist, um Generika auf den Markt zu bringen, sobald ein Patent erteilt wird, zurückgezogen wird oder ausläuft. Nachdem Novartis einen Marathon-Prozess verloren hat, in dem es die Rechtmäßigkeit des Kernbereichs des indischen Patentrechts in Zweifel gezogen hatte, hat das Unternehmen nun Klage vor Indiens Oberstem Gerichtshof eingereicht, um diese entscheidenden Bestimmungen aufzuweichen. Und das Ergebnis der derzeit laufenden Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen zwischen Indien, der EU und Japan könnte Indiens Generika-Industrie nun den Todesstoß versetzen.
Worum geht es? Die Aids-Behandlung für Patienten in Afrika und in Teilen von Asien wurde 2001 revolutioniert, als einer der indischen Generika-Hersteller ein Kombinationspräparat gegen HIV/Aids für einen Dollar pro Tag produzierte, zu einer Zeit, als namhafte Pharma-Unternehmen hierfür 12.000 Dollar pro Jahr verrechneten. Dieser Wettbewerb führte dazu, dass die Preise seither stetig gefallen sind, der Preis für eine Behandlung sogar um über 99%. Ohne diese und andere Preissenkungen hätten Regierungen und Organisationen, die medizinische Hilfe anbieten - wie Ärzte ohne Grenzen - ihre Behandlungen nicht auf das heutige Niveau ausweiten können.
Kurz: Indien wurde zur „Apotheke der Entwicklungsländer“. Ärzte ohne Grenzen kauft 80% seiner Aids-Medikamente bei indischen Generika-Herstellern. 90% der Aids-Medikamente, die PEPFAR, das US-Programm zur weltweiten Bekämpfung von Aids, in 13 Länder liefert, sind Generika - und stammen größtenteils aus Indien. Ohne erschwingliche Generika aus Indien wären im Laufe des letzten Jahrzehnts Millionen Menschen gestorben.Als Indien 2005 seine Patentgesetzgebung abänderte, wurden die Gesetze über geistiges Eigentum verändert, um internationalen Abkommen zu entsprechen. Dies war eine Voraussetzung für jene Länder, die der Welthandelsorganisation (WTO) beitreten wollten. Als WTO-Mitglied war Indien nun gezwungen, auf Medikamente Patente von über 20 Jahren zu erteilen und neue lebensrettende Medikamente genauso zu behandeln wie jede andere Erfindung. Die Auswirkungen auf den Zugang zu erschwinglichen Medikamenten machen sich bereits bei der Patentierung neuerer HIV-Medikamente bemerkbar. Die Zukunft für jene Patienten auf der ganzen Welt, die neuere Medikamente benötigen, sieht ziemlich trostlos aus.
Dennoch hat Indien einen Mittelweg gefunden, um das Schlimmste zu verhindern: Zusätze in der indischen Patentgesetzgebung enthalten Bestimmungen, die einen Schutz gegen unnötiges Patentieren darstellen. Es wurde ein System für öffentliche Interessensgruppen geschaffen, durch das nicht gerechtfertigte Patente angefochten werden können. Durch diesen Mechanismus konnte es z.B. das „Delhi Network of Postive People“ (DNP+), eine kleine Organisation, die mit Aids-Patienten arbeitet, mit dem US-Multi Gilead Sciences aufnehmen und die Gültigkeit der Patentbestimmungen des Unternehmens für Tenofovir anfechten. Dies ist dank der entscheidenden Zusätze in der Gesetzgebung möglich, welche die Praxis der Ausweitung von Patenten und Preismonopolen auf bestimmte Medikamente verbieten - indem leichte Abänderungen an bereits bestehenden Medikamenten ebenfalls patentiert werden – eine übliche Methode, durch die Pharmakonzerne in den USA und Europa für fast unbegrenzte Zeit ein Patent innehaben.
Diese Kompromisslösung ist nun gefährdet: Durch neue Handelsabkommen könnte ein wesentlich strikteres Patentsystem implementiert werden, das die Generika-Industrie unterjocht und Indien davon abhält, weiterhin lebensrettende Medikamente für Entwicklungsländer zu produzieren. Hier kommen auch die USA auf den Plan, die Indien auf eine „Watch List“ setzen wegen des „schwachen Schutzes der Rechte auf geistiges Eigentum und deren Umsetzung“ – trotz Indiens Einhaltung der internationalen Gesetze. Ein durchgesickerter Text, der Gegenstand der geheimen Verhandlungen über einen Anti-Fälschungs-Vertrag ist, weist darauf hin, dass bestimmte Generika fälschlicherweise als „Fake“ klassifiziert werden würden – eine Verwirrung, die bereits dazu geführt hat, dass legale Generika 2008 von europäischen Zollbehörden beschlagnahmt wurden. Dies wäre ein Riesen-Hindernis für Länder, die Generika aus Indien importieren wollen, denn wer könnte schon dagegen argumentieren, wenn gefälschten Medikamenten ein Riegel vorgeschoben werden soll?
Qualitativ hochwertige, legal hergestellte Generika sind aber alles andere als ein „Fake“. Sie bilden die Lebensader von Therapieprogrammen auf der ganzen Welt. Ärzte ohne Grenzen hängt von ihnen ab, um effiziente Hilfsprogramme durchführen zu können. Umfangreiche globale Gesundheitsprogramme, die von den USA und anderen Ländern unterstützt werden, sind darauf angewiesen, um zu gewährleisten, dass sie eine möglichst große Anzahl von Kranken erreichen. Das Überleben von Patienten auf der ganzen Welt hängt von Generika ab.
Während die Gerichte Indiens die verschiedenen Fälle prüfen, die in den nächsten Monaten vor ihnen liegen, und die verhandelnden Parteien über die Bedingungen verschiedener Abkommen feilschen, frage ich sie: Was wird passieren, wenn Ihr die Apotheke der Entwicklungsländer schließt? Die Antwort ist sonnenklar.