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Im Winter zu Fuß durch Norditalien
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Der Titel lässt den Bericht einer/-s italienischen Extremsportler:in vermuten, der/die sich einer neuen Herausforderung stellt. Das hier ist allerdings nicht die Geschichte einer/-s Extremsportler:in, sondern eine Geschichte von Menschen, die aus ihrer Heimat fliehen mussten und nun in Europa Schutz suchen.
Die Zahl der Geflüchteten und Migrant:innen an den nördlichen Grenzen Italiens hat in den letzten Monaten wieder stark zugenommen. Selbst im Winter gehen die Menschen zu Fuß nach Westen, über die schneebedeckten Alpen, nach Frankreich. Viele erzählen, dass sie wiederholt von der französischen Polizei zurückgewiesen wurden.
Während die Gesamtzahl der Menschen geringer ist als vor einigen Jahren, haben sich die Fluchtbedingungen nicht geändert. Demütigungen, Gewalt und Belästigungen sind für geflüchtete Männer, Frauen und Kinder Alltag. Das Einzige, das die Menschen zum Weiterlaufen motiviert, ist die Chance, irgendwann ihr Ziel zu erreichen.
In den Grenzstädten fehlt die Unterstützung durch die Behörden vollständig. Es ist Aktivist:innen und Freiwilligen überlassen, Menschen auf der Durchreise aufzunehmen und ihnen mit unserer Unterstützung humanitäre Hilfe und medizinische Versorgung zukommen zu lassen. Mitte Dezember reisten zwei unserer Teams zu den wichtigsten Transitpunkten in Ventimiglia, Oulx, Bozen und Triest und sprachen mit Menschen auf der Flucht und den Menschen, die versuchen, ihnen zu helfen.
Hier ist, was sie berichten:
VENTIMIGLIA
Auf den Straßen, entlang von Eisenbahnschienen, in verlassenen Gebäuden und am Strand: Hier leben Geflüchtete und Mirgant:innen in Ventimiglia, nachdem die Behörden im vergangenen Juli das Tansitlager in der Nähe des Flusses Roja geschlossen hatten. Trotz seiner Mängel war das Camp ein Aufenthaltsort für Menschen auf der Flucht. Jetzt gibt es keinen offiziellen Ort, an dem sie bleiben können. Freiwillige Gruppen und informelle Netzwerke von Aktivist:innen bieten zwölf Stunden am Tag, sieben Tage die Woche warme Mahlzeiten in der Nähe der französischen Grenze an. Dank ihres Engagements können Familien mit Kindern eine Unterkunft in der Stadt finden.
Die Bar am Bahnhof
Delia besitzt eine Bar in der Nähe des Bahnhofs in Ventimiglia. Sie heißt dort täglich Geflüchtete und Migrant:innen willkommen. Filippo, Mitte sechzig und kurz vor seiner Pensionierung, kommt jeden Tag hier her, um Kaffee zu trinken und zu sehen, ob eine neue Familie zu Gast ist und Hilfe braucht. „Im vergangenen Jahr haben meine Frau und ich die Türen unseres Hauses geöffnet. Wir haben bereits mehr als 30 Familien aufgenommen. Wir betrachten es als Dienstleistung. Wir begrüßen vor allem Familien mit Kindern und alleinstehende Frauen: Menschen, die keinen Schutz haben und niemals auf der Straße schlafen dürfen. “
Als die Flut kam...
Anfang Oktober 2020 wurde Ventimiglia von schweren Überschwemmungen heimgesucht. In den folgenden Tagen wurden zehn Leichen gefunden, von denen acht nie identifiziert wurden. "Es waren wahrscheinlich Menschen auf der Flucht, die am Fluss schliefen und vom Wasser mitgerissen wurden", sagt Luca Daminelli, ein Aktivist, der mit Progetto 20K zusammenarbeitet. Jeden Abend stehen Freiwillige dieses Netzwerks auf einem Parkplatz vor dem Friedhof und verteilen warme Mahlzeiten und Kleidung an Menschen, die in Ventimiglia unterwegs sind. „Dank eines umfassenden Solidaritätsnetzwerks, das in der Region aufgebaut wurde, können wir Menschen und Familien auf der Durchreise erreichen“, sagt er. „Die gesamte Unterstützung wird von Freiwilligen bereitgestellt. Ärzte ohne Grenzen hat uns Schlafsäcke, Decken, Schuhe und Kleidung gespendet, die wir an Menschen auf der Durchreise verteilen - alles wichtige Dinge, damit sie ihre Reise in den Wintermonaten fortsetzen können. “
OULX
In den letzten drei Jahren haben mehr als 10.000 Menschen in Oulx im oberen Susatal die Alpen überquert, um nach Frankreich zu gelangen. Die COVID-19-Pandemie und die Sperrbeschränkungen haben dazu geführt, dass weniger Menschen diese Route nehmen, ohne sie jedoch vollständig zu stoppen. Im Sommer kamen mindestens 500 Menschen durch Oulx, die meisten von ihnen waren auf der „Balkanroute“ unterwegs. Dazu gehörten Menschen aus dem Iran, Afghanistan und aus Nordafrika, die diesen Weg wählten. Sie wollten die willkürlichen Inhaftierungen in Libyen und das Risiko eines Schiffbruchs am Mittelmeer vermeiden.
Die Alpenüberquerung
Die Reise beginnt auf dem Platz vor dem Bahnhof, wo Busse nach Claviere fahren, der letzten italienischen Stadt vor der Grenze, von wo aus Migrant:innen und Geflüchtete hoffen, Briançon in Frankreich zu erreichen. „Wenn Sie bei Temperaturen von -15°C gehen und Ihre Füße nass werden, riskieren Sie Ihr Leben“, sagt Piero Gorza, Anthropologe und piemontesischer Vertreter von Doctors for Human Rights (MEDU). „Der Winter ist eine kritische und dramatische Zeit, in der alle Beteiligten zusammenarbeiten müssen, um Leben zu retten. Glücklicherweise hat dieses Tal auch starke Traditionen der Solidarität. Es sind die Erinnerungen der Menschen aus den Jahren nach dem Krieg, die geblieben sind. In all den Jahren gab es dank der Freiwilligen und Aktivist:innen, die in den Bergen Hilfe leisten, nur fünf Todesfälle. Es ist, als würde man jemandem, der auf See ertrinkt, eine Schwimmweste geben. Unsere Hilfe verhindert Todesfälle."
BOZEN
Mitte Dezember lebten in Bozen rund 120 Migrant:innen auf der Straße. Die Menschen kommen immer noch in der Stadt an, in der Hoffnung, die Grenze zu überschreiten. Der Brennerpass ist aber geschlossen. Seit der Schließung versuchen nur wenige die Grenze tatsächlich zu überqueren. Rund 50 Menschen leben unter unmenschlichen Bedingungen unter der Autobahnbrücke inmitten von Müllhaufen. Ratten rennen zwischen ihren ramponierten Zelten hindurch. Zugang zu sauberem Wasser oder Toiletten gib es nicht.
Ärzte ohne Grenzen unterstützt Bozen Solidale und stellt Schlafsäcke, Decken, Schuhe und Kleidung zur Verfügung, die hier direkt an die Menschen verteilt werden.
Issifi und Reiner auf der Bio-Apfelplantage
Der aus Niger stammende Issifi verbrachte einige Zeit in Deutschland und der Schweiz, kehrte aber nach Italien zurück. Er lebte über ein Jahr auf den Straßen von Bozen, bis er Reiner kennenlernte, einen Bauern, der Bio-Äpfel anbaut. Reiner lud ihn ein, auf seiner Farm zu bleiben, und Issifi blieb, nachdem die Apfelpflücksaison vorbei war. „Es war wichtig, seine Geschichte zu erfahren“, sagt Reiner. „Sie hat mich bereichert. Ich war beeindruckt von seinen Erfahrungen während der Flucht. Keiner von uns kann sich wirklich vorstellen, wie sehr sie leiden und welche schrecklichen Dinge sie auf ihren Reisen erlebt haben. Trotz eines so harten Lebens haben sie immer ein Lächeln im Gesicht.“
TRIEST
Geflüchtete und Mirgant:innen aus der Türkei passieren Griechenland, Serbien, Kroatien und Slowenien entlang der Balkanroute. Sie reisen mit allen Mitteln, aber meistens zu Fuß, und kommen über den Grenzübergang Triest nach Italien. Männer, Frauen und Kinder, die entlang dieser Grenzen abgefangen werden, werden oft zurückgebracht, manchmal auch gewalttätig. In Triest angekommen, bleiben die meisten, aus Angst vor Rückschlägen, in der Stadt.
Dank der Mundpropaganda, die über Grenzen und Sprachen hinausgeht, versammeln sich viele Menschen abends im Garten vor dem Bahnhof. Hier bieten Freiwillige aus Linea d'ombra und Strada Sicura heiße Getränke, Essen, Kleidung an und behandeln bei Bedarf Verletzungen, die durch die anstrengenden Reisen entstehen. Meist handelt es sich dabei um Fußverletzungen, die durch lange Strecken in ungeeigneten Schuhen oder sogar barfuß verursacht werden. Viele Menschen werden auf ihrer Flucht ausgeraubt und müssen ohne irgendeinen Besitz weiterreisen.
Wo sind die italienischen Behörden?
Angesichts der fast vollständigen Abwesenheit staatlicher Institutionen erkennt Ärzte ohne Grenzen das unersetzliche Engagement von Aktivist:innen, Freiwilligengruppen und lokalen Gemeinschaften an, die oft isoliert arbeiten und sich bemühen, würdige Lebensbedingungen und Zugang zu Anleitung und Unterstützung für Migrant:innen und Geflüchtete zu gewährleisten.
Wir fordern…
Es liegt jedoch in erster Linie in der Verantwortung der Regierung, Migrationspolitiken zu verabschieden, die Hilfe und Schutz garantieren, anstatt Ausgrenzung und Leiden zu verursachen. Unmenschliche Aufnahmebedingungen, Gewalt und Misshandlungen durch die Polizei sowie wiederholte Abweisung an Grenzübergängen hindern die Menschen nicht daran, weiterhin ein Leben in Würde zu suchen, sondern verursachen Leiden und schwerwiegende humanitäre Folgen. Allzu oft schaffen sie die Voraussetzungen für noch gefährlichere Strecken.
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