Griechische Lager: Immer mehr Kinder mit Selbstmordgedanken

17.12.2020
Während die dringende Evakuierung der Menschen weiterhin verhindert wird, behandeln die Teams von Ärzte ohne Grenzen die Folgen der zunehmenden psychischen Belastung der Betroffenen.
Mental Health in Moria, Lesbos
Enri CANAJ/Magnum Photos for MSF
Omolbanin, 29 years old from Afghanistan has been living in Moria camp for 11 months together with her husband and their three children. "Living in Moria is very challenging", she said in tears. She is suffering from depression. Lesbos, Greece - July 2020

Vier Monate nach dem Brand im Geflüchtetenlager Moria und trotz der Zusagen der Europäischen Union, dass es nie wieder ein zweites Moria geben wird, werden heute immer noch mehr als 15.000 Frauen, Männer und Kinder bei Wintertemperaturen unter katastrophalen Lebensbedingungen auf den griechischen Inseln festgehalten.

Während die dringende Evakuierung der Menschen weiterhin verhindert wird, behandeln die Teams von Ärzte ohne Grenzen die Folgen der zunehmenden psychischen Belastung der Betroffenen. Allein auf Lesbos wurden heuer 49 Kinder mit Selbstmordgedanken oder nach Selbstmordversuchen behandelt, auf Samos gibt es einen alarmierenden Anstieg von Suizidgedanken unter den Geflüchteten. 

Mehr Menschen suizidgefährdet

3.500 Menschen werden auf Samos in einem Lager zusammengepfercht, das ursprünglich für 648 Menschen ausgelegt war. Aus Platzmangel sind viele Menschen gezwungen, in selbst errichteten Zelten und Behausungen zu leben, die neben dem offiziellen Lager errichtet wurden. Sie haben unzureichenden Zugang zu Duschen und Sanitäranlagen und es fehlt an Heizungen. 

Lindsay Solera-Deucha ist Psychiaterin bei Ärzte ohne Grenzen auf der Insel Samos. Sie sieht jeden Tag mit eigenen Augen, wie die katastrophalen Zustände und die Hoffnungslosigkeit auf eine Verbesserung der Situation ihren Tribut bei den Menschen in den Lagern zollen: „Nach jedem kritischen Ereignis, wie den Bränden, dem jüngsten Erdbeben oder auch dem Lockdown haben wir in unserer Klinik eine Zunahme schwerer Fälle festgestellt, mit einem zutiefst besorgniserregenden Anstieg der Selbstmord- und Selbstverletzungsgedanken von Menschen, die im Lager gefangen sind.“

Die katastrophalen Lebensbedingungen tragen direkt dazu bei, dass immer mehr Betroffene unter psychischen Beschwerden leiden: Das Team für psychische Gesundheit von Ärzte ohne Grenzen hat im Lager Vathy kürzlich wieder steigende Zahlen von Patient:innen verzeichnet, wie bereits mehrere Male davor in 2020. 60 Prozent der neuen Patient:innen, die im November in die Klinik von Ärzte ohne Grenzen gekommen sind, haben Selbstmordgedanken ausgesprochen. 37 Prozent von ihnen wurden von den Expert:innen als gefährdet eingestuft. Die Teams von Ärzte ohne Grenzen beobachten diese alarmierende Entwicklung weiter intensiv. 

„Seit Jahren werden die Menschen in den griechischen Lagern bereits unter diesen schlechten Lebensbedingungen festgehalten. Das, gepaart mit der anhaltenden Unsicherheit in Bezug auf ihre Asylanträge, trägt dazu bei, die psychischen Gesundheitsprobleme der Bewohner:innen des Lagers zu verschärfen. Viele von ihnen haben bereits traumatische Ereignisse in ihrem Herkunftsland oder während ihrer Flucht nach Griechenland erlebt“, Lindsay Solera-Deucha betont, dass psychologische Hilfe alleine zu wenig sei: „ohne Aussicht auf Lösung dieser strukturellen Probleme ist es unmöglich, unseren Patient:innen eine wirksame Behandlung zu bieten. Sie brauchen eine sichere und stabile Umgebung, um sich zu erholen.“

Kinder besonders betroffen

Ein ähnliches Bild bietet sich auf Lesbos, wo über 7.000 Asylsuchende, darunter 2.500 Kinder, weiterhin in Zelten leben müssen, die der Witterung ungeschützt ausgesetzt sind und regelmäßig unter Wasser stehen. Ein aktueller, schrecklicher Vorfall, bei dem ein drei Jahre altes Mädchen im Lager vergewaltigt wurde, zeigt, wie unsicher die Lebensbedingungen sind, und dass kaum Maßnahmen zum Schutz von Kindern vorhanden sind. Es fehlt an sicheren und würdevollen Unterkünften für schutzbedürftige Menschen. 

Auch auf Lesbos haben die Psycholog:innen von Ärzte ohne Grenzen seit dem Brand im Lager Moria und der Errichtung des neuen Lagers Kara Tepe alarmierende Symptome bei den Patient:innen festgestellt. Darunter vor allem Schlafwandeln, Albträume, regressives Verhalten, Selbstverletzungen und Suizidgedanken. Allein auf Lesbos haben die Kinderpsycholog:innen von Ärzte ohne Grenzen heuer 49 Kinder mit Selbstmordgedanken oder nach Suizidversuchen behandelt. 

“Wir sehen weiterhin Hoffnungslosigkeit, Verzweiflung, Symptome von Depressivität und einige extreme Fälle von reaktiver Psychose, Selbstverletzung und Selbstmordgedanken. Die schwersten Fälle von Kindern, die wir sehen, sind diejenigen, die isoliert sein wollen oder den Wunsch zum Ausdruck bringen, ihr Leben zu beenden. Sie wollen die ganze Zeit im Zelt sein, sie wollen keine Kontakte knüpfen und sie wollen tatsächlich sterben, um den Schmerz zu stoppen. Sie wollen aufhören, sich so zu fühlen.“, berichtet Thanasis Chirvatidis, Kinderpsychologe auf Lesbos. 

Hoffnungslosigkeit zollt Tribut

„Wir sprechen hier nicht von aufwühlenden Bildern. Sondern von Fakten“, sagt Laura Leyser, Geschäftsführerin von Ärzte ohne Grenzen Österreich

„Wir sprechen auch nicht als Mütter und Väter. Sondern als humanitäre Helfer:innen. Und ich sage Ihnen: Das, was wir seit Jahren auf den griechischen Inseln sehen, ist unserem Europa nicht würdig. Denn – und das möchte ich betonen – die aktuelle Situation im kürzlich errichteten Lager Kara Tepe auf Lesbos oder auch im Lager Vathy auf Samos ist nicht neu. Im Gegenteil. Wir haben über die Jahre immer wieder darauf hingewiesen. Wir haben Patient:innen, die bereits seit vielen Monaten, manche seit Jahren, dort festsitzen. Im Schlamm, zwischen Ratten und Schlangen, mit unzureichender medizinischer Versorgung. Sie haben kaum Aussicht auf eine Verbesserung ihrer Situation. Sie haben die Hoffnung verloren, was sich zunehmend auf ihre psychische Gesundheit auswirkt, eine Entwicklung, die wir mit großer Besorgnis beobachten“, so Leyser weiter. 

Keine Besserung in Sicht

Eine Besserung der Dinge ist nicht in Sicht, sie könnten sogar noch schlimmer werden. Ein neues "Mehrzweck-Aufnahme- und Identifizierungszentrum" wurde in fünf Kilometer Entfernung vom Lager Vathy auf Samos an einem abgelegenen Ort errichtet und wird bald eröffnet, ein weiteres wird auf Lesbos entstehen. Ein langer Stacheldraht soll die Menschen einsperren und umgibt sogar die Kinderspielplätze. 

Stephan Obberreit, Einsatzleiter von Ärzte ohne Grenzen Griechenland, sieht diesen Plänen mit großer Sorge entgegen: „Diese dystopischen Pläne führen die inakzeptable EU-Migrationsstrategie nur weiter fort und werden weiterhin unermessliches menschliches Leid erzeugen, das so noch unsichtbarer wird."

Evakuierung jetzt!

„Ich bitte die österreichische Bundesregierung inständig: Asylsuchende als Teil der europäischen Abschreckungspolitik unter solchen Bedingungen leben zu lassen, kann keine Lösung sein. Das Gebot der Stunde ist die umgehende Evakuierung der Menschen von den griechischen Inseln, und daran sollte sich auch Österreich beteiligen.“, fordert Geschäftsführerin Laura Leyser.

Ärzte ohne Grenzen fordert schon lange die Evakuierung der Menschen von den griechischen Lagern. Eines ist klar: Die Lage vor Ort wird immer schlimmer, statt besser. 

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