Ein Jahr Ebola-Bekämpfung in Westafrika: Ärzte ohne Grenzen kritisiert „Allianz der Untätigkeit“ in den ersten Monaten

23.03.2015
Ärzte ohne Grenzen kritisiert „Allianz der Untätigkeit“ in den ersten Monaten und warnt davor, den Ausbruch in Westafrika vorschnell für beendet zu erklären. Die Zahl der Neuinfektionen ist zuletzt wieder gestiegen.

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Watsan Team disinfects Freetown Houses
Fabio Basone/MSF
Freetown, Sierra Leone, 13.02.2015: Wasser- und Sanitärexperte Ivan Quentin desinfiziert mit seinem Team Wohnhäuser von Menschen, bei denen der Verdacht einer Ebola-Infektion besteht.

Wien, am 23. März 2015– Ein Jahr nach der offiziellen Bekanntgabe des Ebola-Ausbruchs in Westafrika hat Ärzte ohne Grenzen/Médecins Sans Frontières (MSF) eine kritische Analyse der globalen Bekämpfung der Krankheit veröffentlicht. „Die Ebola-Epidemie hat schonungslos offengelegt, wie ineffizient und langsam die internationalen Gesundheits- und Hilfssysteme auf Notfälle reagieren“, sagt Joanne Liu, die internationale Präsidentin von Ärzte ohne Grenzen. Die Organisation warnt davor, den Ausbruch in Westafrika vorschnell für beendet zu erklären. Die Zahl der Neuinfektionen ist zuletzt wieder gestiegen.

Der heute veröffentlichte Bericht mit dem Titel „Pushed to the limit and beyond“ basiert auf Interviews mit zahlreichen Mitarbeitern von Ärzte ohne Grenzen, die im Ebola-Einsatz waren. Bereits im März 2014 hat Ärzte ohne Grenzen vor einem Ausbruch von beispielloser geografischer Verbreitung gewarnt, die Regierungen der betroffenen Länder leugneten den Ausbruch aber zunächst. Der Bericht stellt detailliert die Auswirkungen der monatelangen „globalen Koalition der Untätigkeit“ lokaler und internationaler Akteure dar. In dieser Zeit verbreitete sich das Virus völlig unkontrolliert. Ärzte ohne Grenzen forderte schließlich, sowohl zivile als auch militärische medizinische Teams zur Bekämpfung biologischer Gefahren nach Westafrika zu entsenden.

Versagen zahlreicher Institutionen

„Der Ebola-Ausbruch wurde oft als ‚perfekter Sturm’ bezeichnet: eine grenzüberschreitende Epidemie in Ländern mit schwachen Gesundheitssystemen, in denen Ebola bislang unbekannt war“, sagt Christopher Stokes, Geschäftsführer der Brüsseler Einsatzzentrale von Ärzte ohne Grenzen, von wo aus die Ebola-Hilfe koordiniert wurde. „Doch wer das als einzige Erklärung gelten lässt, der macht es sich zu einfach. Dass die Epidemie dermaßen außer Kontrolle geraten konnte, liegt am Versagen zahlreicher Institutionen. Dieses vermeidbare Versagen hatte schlimme Konsequenzen.“

Angesichts der Untätigkeit der internationalen Gemeinschaft sah sich Ärzte ohne Grenzen gezwungen, eine Ebola-Intervention nie gekannten Ausmaßes zu realisieren. Dennoch war Ende August das größte Ebola-Behandlungszentrum der Geschichte in Liberias Hauptstadt Monrovia völlig überfüllt. Die Mitarbeiter mussten schwerkranke Patienten am Eingang abweisen, in vollem Bewusstsein, dass diese vermutlich nach Hause gehen und andere anstecken würden. Im Laufe des vergangenen Jahres waren mehr als 1.300 internationale und 4.000 einheimische Mitarbeiter von Ärzte ohne Grenzen in Westafrika tätig und haben dort fast 5.000 Ebola-Patienten versorgt. Mehr als 2.300 dieser Patienten haben die Krankheit überlebt.

Teams konnten unmöglich alles Nötige gleichzeitig tun

Der Bericht dokumentiert auch selbstkritisch die Herausforderungen für Ärzte ohne Grenzen sowie schwierige Entscheidungen, die die Mitarbeiter angesichts mangelnder Ressourcen und fehlender Behandlungsmöglichkeiten treffen mussten. Innerhalb der Organisation waren die Erfahrungen mit Ebola auf eine relativ kleine Expertengruppe beschränkt. Trotzdem hätte sie früher mehr Ressourcen mobilisieren sollen. Notgedrungen konzentrierten sich die Teams auf Schadensbegrenzung. Es war unmöglich, alles Nötige gleichzeitig zu tun. Die Teams mussten zwischen der Patientenversorgung, der Überwachung der Epidemie, der Organisation sicherer Beerdigungen und mobilen Aktivitäten in Dörfern und Städten priorisieren. „In den schlimmsten Phasen des Ausbruchs konnten die Teams von Ärzte ohne Grenzen einfach nicht mehr Patienten aufnehmen und die bestmögliche Patientenversorgung nicht gewährleisten“, sagt Liu. „Das hat zu erhitzten Debatten und Spannungen innerhalb der Organisation geführt.“

Aktuell ist die Situation weiterhin herausfordernd, noch immer gibt es jede Woche mehr als 100 Neuinfektionen. Jede einzelne Kontaktperson eines Ebola-Infizierten muss ausfindig gemacht werden. Die Zahl der Neuinfektionen pro Woche ist noch immer höher als in jedem Ausbruch zuvor, und sie ist seit Ende Jänner nicht mehr gesunken.

500 medizinische Fachkräfte verstorben

In Guinea steigt die Zahl der Patienten sogar an. Noch immer gibt es Misstrauen und Widerstand gegen die Mitarbeiter von Gesundheitseinrichtungen und Hilfsorganisationen. In Sierra Leone bestehen weiterhin aktive Ansteckungsherde im Westen des Landes. Viele der neuen Patienten stehen auf keiner der Listen bekannter Kontaktpersonen – niemand weiß, wo sie sich angesteckt haben. In Liberia wurde am 20. März eine Person positiv auf Ebola getestet; es handelt sich um den ersten bestätigten Ebola-Fall, seit mehr als zwei Wochen zuvor der letzte Patient entlassen worden war.

In den drei am stärksten betroffenen Ländern haben im vergangenen Jahr fast 500 Gesundheitsmitarbeiter ihr Leben verloren. Dies ist umso verheerender, als diese Staaten bereits vor der Ebola-Krise unter einem gravierenden Personalmangel im Gesundheitssektor litten. Der Zugang zu Gesundheitsversorgung muss dringend wiederhergestellt werden.

Globale Strategie nötig

Entscheidend für die Zukunft ist die Entwicklung einer globalen Strategie zur Entwicklung von Impfstoffen, Medikamenten und Diagnostika gegen Ebola. „Diese Epidemie hat brutal ein kollektives Scheitern aufgezeigt, für das tausende Menschen mit dem Leben bezahlt haben. Die Mängel reichen von den schwachen Gesundheitssystemen in den betroffenen Ländern bis zur Lähmung der Hilfe von internationaler Seite“, ist die Schlussfolgerung des Berichts.

Bericht zum Download: Pushed to the limit and beyond“ (PDF)

Videorückblick: "Bis an die Grenze des Erträglichen"