Gewalt im Jemen: „Wir sind im Spital eingeschlossen.“

08.04.2015
Angespannte Situation im Jemen hält weiter an - Teams von Ärzte ohne Grenzen haben bisher 780 Verletzte behandelt. Projektkoordinatorin Valerie Pierre berichtet aus dem Süden des Landes.
Emergency Surgical Unit, Aden
MSF
Aden, Jemen, 25.03.2015: Unser Team im Krankenhaus in Aden im südlichen Jemen hat von 19. März bis 6. April 2015 knapp 600 Verletzte behandelt.

Die angespannte Situation im Jemen hält weiter an – die Kämpfe der vergangenen Wochen sowie die Luftangriffe seit dem 26. März haben zu einem immensen Bedarf an medizinischer Hilfe in vielen Teilen des Landes geführt. Teams von Ärzte ohne Grenzen haben von 19. März bis 6. April 2015 insgesamt 780 Verletzte behandelt. Es wird dringend mehr medizinische Versorgung und geschultes Personal benötigt. Am 8. April konnte das erste Boot mit medizinischen Hilfsgütern Aden im südlichen Jemen erreichen, wo Ärzte ohne Grenzen ein Krankenhaus betreibt.

Valerie Pierre ist unsere Koordinatorin im chirurgischen Projekt in Aden. Sie schildert die aktuelle Lage vor Ort.

„Als ich Ende Jänner in Aden ankam, konnten wir das Krankenhaus verlassen, um in die Stadt zu gehen. Das alles hat sich dramatisch verändert, fast über Nacht, als die Kämpfe und die Luftangriffe vor mehr als zwei Wochen begannen. Seitdem sind wir im Spital verschanzt.

110 Verletzte an einem einzigen Tag

Unser chirurgisches Projekt ist jetzt regelmäßig mit einem Ansturm von Kriegsverletzten konfrontiert. Seit dem Ausbruch der Kämpfe haben wir 580 Patienten behandelt. Der schlimmste Tag war der 26. März, ein Donnerstag: 110 Verwundete kamen zu uns und mussten notversorgt werden. Heute war es relativ ruhig, nur zehn Patienten kamen zur Behandlung zu uns. Aber ich weiß, dass eine der Hauptstraßen zum Krankenhaus blockiert ist, also könnten Menschen dort draußen sein, die verletzt sind, aber es nicht bis zu uns schaffen. Sobald die Straße wieder passierbar ist, könnten mehr Leute kommen – so wie jeden Tag, wenn um 6 Uhr morgens die nächtliche Ausgangssperre endet. Wie würden gerne mehr Rettungswägen in die Stadt schicken, um Verletzte zu holen – doch es ist teilweise einfach zu gefährlich.

Die meisten unserer Patienten sind junge Männer, doch wir haben auch Frauen und Kinder behandelt. Falls alle wurden durch Schüsse, Heckenschützen oder Granatsplitter verletzt. Ich habe viele Männer im Alter von Anfang bis Ende Zwanzig gesehen, die beide Beine verloren haben – ich habe noch nie zuvor solche Verletzungen gesehen. Wir hatten auch Kinder, die schwer verletzt wurden, während sie gespielt haben. Wir sind ein chirurgisches Projekt, doch manchmal sind die Menschen am Kopf oder am Nacken so schwer verletzt, dass wir sie nicht behandeln können und wo anders hin überstellen müssen.

Team schläft abwechselnd in Schichten

Unser kleines, internationales Team mit sechs Einsatzkräften arbeitet rund um die Uhr mit unserem jemenitischen Team von 140 Leuten zusammen – sie sind die Lebensader des Krankenhauses.  Auch wenn es manchmal zu gefährlich für unsere einheimischen Mitarbeiter ist, zur Arbeit zu kommen, tun es viele von ihnen trotzdem jeden Tag. Oft ist es zu unsicher, das Spital zu verlassen, deshalb helfen wir ihnen, nach Hause zu kommen – oder sie können im Krankenhaus übernachten. Verständlicherweise sind sie sehr um ihre Familien und ihre Zukunft besorgt und darüber, was mit ihrem Land passieren wird.

Die Stimmung ist sehr angespannt, und es ist sehr stressig. Wir hören die Kämpfe außerhalb des Krankenhauses und die Bomben, die etwas weiter weg abgeworfen werden. Wir wechseln uns damit ab, in Schichten jeweils ein paar Stunden zu schlafen, auch wenn wir manchmal einfach nur auf dem Gang am Boden liegen – in sicherem Abstand von den Fenstern.

Dringend mehr Einsatzkräfte und Material benötigt

Wir brauchen dringend mehr internationale Einsatzkräfte, die hier her kommen und uns entlasten. Unser einziger Chirurg, Anästhesist und die leitende Pflegefachkraft sind erschöpft. Ein Backup-Team wurde bereits zusammengestellt, doch sie stecken in Dschibuti fest. Die Flughäfen wurden gesperrt, daher kann man Aden nur mit dem Boot erreichen. Doch es gibt schwerwiegende Platzprobleme am Hafen. Doch es geht nicht nur um Einsatzkräfte, wir brauchen auch mehr Medikamente und medizinisches Material. Manches davon ist heute aus Sana’a angekommen, doch wenn in den nächsten Tagen nicht mehr zu uns kommt, werden uns diese Dinge ausgehen.

Es steht uns nicht zu, unsere Patienten zu fragen, wie sie verwundet wurden – unsere Aufgabe liegt darin, medizinische Hilfe zu leisten. Doch ich frage die Menschen, wo in der Stadt sie verletzt wurden, damit ich ein Bild davon bekomme, wo die schweren Kämpfe stattfinden und wo es für unsere Fahrer zu unsicher ist.

Seit 2011 kostenlose chirurgische Hilfe in Aden

Manche von denen, die für eine Behandlung zu uns kommen, sind ohne Zweifel Kämpfer – doch sie akzeptieren unsere Regeln: Sie müssen den Konflikt vor der Türe des Krankenhauses lassen, und sie wissen auch, dass wir Menschen von beiden Konfliktseiten versorgen. Unsere Neutralität und Unparteilichkeit sind der beste Schutz, den wir haben – sowohl für uns als auch dafür, das Krankenhaus weiter betreiben zu können. Wir bieten hier seit 2011 kostenlos chirurgische Hilfe an, deshalb haben die Menschen eine gute Vorstellung davon, was wir hier tun. Derzeit ist das Krankenhaus relativ sicher, die unsichere Lage hat uns nicht direkt betroffen. Doch natürlich machen wir uns manchmal Sorgen, ob wir in Gefahr sind. Es sind überall Kämpfer und wir wissen nicht, wer momentan das Gebiet außerhalb des Krankenhauses kontrolliert – es sieht so aus, als würde sich das stündlich ändern.

Wenn ein großer Ansturm an Patienten bei uns ankommt, gibt es keine Zeit, nachzudenken. Wir müssen stark sein, fokussiert arbeiten und eine gewisse Distanz einhalten, damit wir unseren Job machen können. Erst wenn wir uns gemeinsam hinsetzen, um das Erlebte zu besprechen und eine Liste der Fälle machen, die an einem Tag zu uns gekommen sind, reflektieren wir gemeinsam etwas genauer, was hier eigentlich vorgeht.“

Im Original erschienen am 7. April 2015 in der britischen Tageszeitung The Guardian.