Beenden Sie diese Angriffe!

03.05.2016
Krankenhäuser dürfen nicht bombardiert werden: Rede von Dr. Joanne Liu, int. Präsidentin von Ärzte ohne Grenzen, vor dem Sicherheitsrat des Vereinten Nationen.
Rede von Dr. Joanne Liu, int. Präsidentin von Ärzte ohne Grenzen, vor dem Sicherheitsrat des Vereinten Nationen
MSF
New York, U.S.A., 03.05.2016: Dr. Joanne Liu fordert vom UN-Sicherheitsrat: Krankenhäuser, PatientInnen und ÄrztInnen dürfen keine Angriffsziele sein! #NotATarget

Die Anzahl der angegriffenen und zerstörten Krankenhäuser in Konfliktgebieten ist alarmierend. Mit einer UN-Resolution am 3. Mai soll sichergestellt werden, dass dies nicht zur Normalität wird. Mit einer Rede wendet sich daher heute Dr. Joanne Liu, internationale Präsidentin von Ärzte ohne Grenzen, an den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen in New York.

Es gilt das gesprochene Wort.

Exzellenzen, sehr geehrte Damen und Herren,

am vergangenen Mittwoch haben Luftangriffe das Al-Kuds-Krankenhaus in Aleppo ausgelöscht. Mindestens 50 Männer, Frauen und Kinder wurden zerfetzt. Der Angriff tötete einen der letzten verbliebenen Kinderärzte der Stadt. Ein mörderischer Luftangriff. In den vergangenen zehn Tagen gab es in Aleppo fast 300 Luftangriffe. Zivilisten, insbesondere Menschenmengen, wurden wiederholt getroffen.

Was ist ein Mensch heute im Krieg? Entbehrliche Ware, tot oder lebendig. Patientinnen und Patienten, Ärztinnen und Ärzte sind legitime Ziele. Frauen und Kinder, Kranke und Verwundete und diejenigen, die sich um sie kümmern, sind zum Tode verurteilt.

Beenden Sie diese Angriffe!

Ich war in Kundus, in Afghanistan, nachdem ein US-Angriff unser dortiges Trauma-Zentrum am 3. Oktober 2015 zerstört hatte. Einer der Überlebenden, ein Pfleger von Ärzte ohne Grenzen, dessen linker Arm während des erbarmungslosen Angriffs weggerissen wurde, erzählte mir etwas, was mich keinen Tag loslässt. Er sagte, als die Kämpfe in Kundus ausbrachen, habe Ärzte ohne Grenzen den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern erzählt, das Trauma-Zentrum sei ein sicherer Ort. „Wir haben euch geglaubt“, sagte er. „Wusstest ihr, dass wir bombardiert werden würden?“

Ich sagte ihm, dass ich bis zum 3. Oktober aufrichtig daran geglaubt habe, dass das Krankenhaus ein sicherer Ort sei.

Heute kann ich das über keine medizinische Einrichtung an der Front mehr sagen.

In Afghanistan, der Zentralafrikanischen Republik, im Südsudan, im Sudan, in Syrien, der Ukraine und im Jemen werden Krankenhäuser regelmäßig bombardiert, überfallen, geplündert oder bis auf die Grundmauern niedergebrannt. Medizinisches Personal wird bedroht. Patientinnen und Patienten werden in ihren Betten erschossen. Umfassende Angriffe auf Gemeinden und präzise Angriffe auf Gesundheitseinrichtungen werden als Fehler bezeichnet, verleugnet oder tot geschwiegen. In der Realität sind sie Teil massiver, willkürlicher und unverhältnismäßige Angriffe auf Zivilisten in städtischen Gebieten und von Terrorakten. Die Folgen der Angriffe auf Gesundheitseinrichtungen gehen weit über die unmittelbar Getöteten und Verletzten hinaus. Sie zerstören die alltägliche und lebensrettende Gesundheitsversorgung für alle. Sie machen Leben unmöglich. Punkt!

Am 26. Oktober 2015 traf ein Luftangriff der von Saudi-Arabien geführten Koalition das von Ärzte ohne Grenzen geführte Krankenhaus in Haydan, im Norden des Jemen. Der Angriff ließ mindestens 200.000 Menschen ohne lebensrettende Versorgung zurück. Dies war eine von drei Einrichtungen von Ärzte ohne Grenzen im Jemen, die über einen Zeitraum von drei Monaten teilweise oder ganz zerstört wurden.

Die Angriffe auf Einrichtungen von Ärzte ohne Grenzen sind nur ein kleiner Ausschnitt der ganzen Brutalität des Krieges. Angriffe auf andere Krankenhäuser und Kliniken – auf Schulen, Märkte, Gebetsstätten – sind Routine. Das lokale Gesundheitspersonal trägt die Hauptlast dieses Missbrauches.

Wir sind in einer tödlichen Sackgasse.

Wir können nicht mehr davon ausgehen, dass voll funktionsfähige Krankenhäuser – in denen Patienten um ihr Leben kämpfen – tabu sind. Krankenhäuser und Patienten werden auf das Schlachtfeld gezerrt. In Jasim, einer Stadt im Süden Syriens, haben Einwohner vor einem Krankenhaus protestiert, um dessen Wiedereröffnung zu verhindern. Sie wissen, was mit funktionierenden Krankenhäusern geschieht. Wir erleben eine Epidemie von Angriffen auf Gesundheitseinrichtungen, die uns daran hindert, unsere Kernarbeit zu tun. Und bis heute sind unsere Forderungen nach unabhängigen Untersuchungen folgenlos geblieben.

Verantwortlichkeit beginnt mit einer unabhängigen und unparteilichen Untersuchung.

Täter können nicht gleichzeitig Ermittler, Richter und Geschworene sein.

Täuschen Sie sich nicht: Wir werden ganz sicher weiterhin Angriffe auf medizinische Hilfe anprangern. Wir werden laut und deutlich über das sprechen, was wir in unseren Projekten sehen. Medizin darf keine tödliche Beschäftigung sein. Patienten dürfen nicht angegriffen oder in ihren Betten abgeschlachtet werden. Wir Ärzte legen einen Eid ab, wenn wir diesen Beruf ergreifen. Wir behandeln jeden Einzelnen. Unabhängig davon, wer er ist. Unabhängig von seiner Religion, seiner Rasse, oder davon auf welcher Seite er kämpfen könnte. Selbst wenn er verwundeter Kämpfer ist, oder als Krimineller oder Terrorist gilt. Krankenhäuser dürfen nicht angegriffen werden, und Bewaffnete dürfen nicht gewaltsam eindringen und nach Patienten suchen und diese gefangen nehmen. Verraten wir diese Grundprinzipien, dann verraten wir die medizinische Ethik.

Medizinische Ethik kann nicht im Krieg begraben werden.

Die Neutralität der medizinischen Versorgung in Kriegszeiten kann nicht durch staatliche Souveränität oder nationales Recht ausgerottet werden. Insbesondere im Zeitalter der Terrorismus- und Aufstandsbekämpfung – gekennzeichnet durch wechselnde Allianzen und undurchsichtige Regeln. Die Art der Kriegsführung mag sich verändert haben, die Regeln des Krieges nicht.

Sie, verehrte Damen und Herren, sind für den Schutz von Frieden und Sicherheit verantwortlich.

Dennoch sind vier der fünf ständigen Mitglieder dieses Rates in unterschiedlichem Maße mit Koalitionen verbunden, die im vergangenen Jahr für Angriffe auf Gesundheitseinrichtungen verantwortlich waren. Dazu gehören die NATO-geführte Koalition in Afghanistan, die saudisch-geführte Koalition im Jemen und die von Russland unterstützte syrisch-geführte Koalition.

Sie müssen Ihrer außerordentlichen Verantwortung gerecht werden und für alle Staaten ein Beispiel setzen. Ich wiederhole: Beenden Sie diese Angriffe!

Die Diskussion hier und heute darf nicht auf leere Rhetorik hinauslaufen. Diese Resolution darf nicht wie so viele andere, einschließlich der in den vergangenen fünf Jahren zu Syrien verabschiedeten, enden: Regelmäßig durch Straflosigkeit verletzt. In Syrien, wo Gesundheitsversorgung systematisch angegriffen und belagerten Gebieten zynisch medizinische Hilfe verwehrt wird.

Tun Sie Ihre Pflicht!

Garantieren Sie – gerade in Konflikten – den Schutz unparteilich geleisteter Gesundheitsversorgung. Unterstützen Sie auch die Pflicht der medizinischen Helfer, alle Kranken und Verwundeten ohne Diskriminierung zu behandeln. Dr. Maaz, der Kinderarzt, der vergangene Woche in Aleppo getötet wurde, starb, weil er Leben rettete. Heute erinnern wir uns an seine Menschlichkeit und seinen Mut, den so viele Patienten, Pfleger, Ärzte, Gemeinden und Mitarbeiter von Ärzte ohne Grenzen teilen, die in Konfliktgebieten tätig sind.

Um ihretwillen: Setzen Sie diese Resolution in Taten um!

Verpflichten Sie sich erneut – unmissverständlich – auf die Regeln, die in der Kriegsführung maßgeblich sind. Diese Resolution muss dazu führen, dass alle Staaten und nicht-staatlichen Akteure das Blutbad beenden! Auch müssen Sie Druck auf Ihre Verbündeten ausüben, um Angriffe auf Gesundheitseinrichtungen und Zivilisten in Konfliktgebieten zu beenden.

Wir werden die Patienten nicht zurücklassen. Und wir werden nicht schweigen. Medizinische Versorgung in Anspruch zu nehmen oder bereitzustellen, darf kein Todesurteil sein.

Sie werden nicht nach Ihren Worten beurteilt werden, sondern nach Ihren Taten. Ihre Arbeit hat gerade erst begonnen.

Sorgen Sie dafür, dass diese Resolution Leben rettet!

Vielen Dank.