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10 Dinge, die Sie über die Tragödie im Mittelmeer wissen sollten
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Derzeit sind unsere Teams mit zwei Rettungsschiffen im Rettungseinsatz: Der Prudence und der MV Aquarius (letztere wird in Zusammenarbeit mit SOS MEDITERRANEE betrieben). 2016 waren zwei weitere Schiffe von Ärzte ohne Grenzen im Einsatz. Allein im Jahr 2016 haben unsere Teams am Mittelmeer mehr als 20.000 Menschen direkt von überfüllten Booten gerettet, medizinisch versorgt und in sichere Häfen in Italien gebracht. Mindestens jedem Siebten, der aus dem Mittelmeer gerettet wurde, haben die Teams von Ärzte ohne Grenzen geholfen.
Unsere Erfahrungen aus diesen Einsätzen haben wir hier in 10 Punkten zusammengefasst:
- 2016 war bisher das tödlichste Jahr am Mittelmeer.
- Männer, Frauen und Kinder werden in noch schlechtere Boote gezwängt.
- Schlepper sind skrupelloser denn je.
- Hohe Anzahl an unbegleiteten Kindern wagen die Flucht allein.
- Viele der von uns geretteten Frauen sind schwanger, oftmals ist die Schwangerschaft Folge einer Vergewaltigung.
- Ärzte ohne Grenzen hat nichts mit Schlepperei zu tun.
- Nicht nur Frauen und Kinder benötigen Schutz.
- Europa ist keineswegs Hauptziel für Flüchtende und Migranten.
- Flüchtlinge und Migranten erleben furchtbare Gewalt und Missbrauch in Libyen.
- Das Abfangen von Booten beim Verlassen Libyens ist keine Lösung.
#1 - 2016 war bisher das tödlichste Jahr am Mittelmeer
Im vergangenen Jahr sind mehr als 5.000 Männer, Frauen und Kinder bei dem Versuch, das Mittelmeer zu überqueren, gestorben. Das sind über 2.000 Menschen mehr als im Jahr 2015 und ist nicht auf einen signifikanten Anstieg bei den Ankommenden, sondern auf einen Anstieg der Sterblichkeit bei der Mittelmeerüberquerung zurückzuführen. 2016 verstarb ungefähr jeder 41. bei dem Versuch, von Libyen per Boot zu fliehen. Trotz der schockierend hohen Anzahl an Menschen, die im zentralen Mittelmeer ihr Leben verloren haben, bestand die Reaktion der EU nur darin, den Schleppern den Krieg zu erklären und Abschreckungsmaßnahmen und Abschottung zu forcieren, anstatt Leben zu retten und sichere Fluchtwege nach Europa zu schaffen. Das hat nur dazu geführt, dass Schlepper nun noch gefährlichere Methoden anwenden, um Grenzkontrollen zu vermeiden, was wieder mehr Menschenleben gekostet hat.
# 2 – Männer, Frauen und Kinder werden in noch schlechtere Boote gezwängt
2016 haben die Teams von Ärzte ohne Grenzen Menschen aus 134 extrem schlechten Schlauchbooten und 19 Holzbooten gerettet. Die Teams haben auch die Leichen jener geborgen, für die jede Hilfe zu spät kam. Die großen Holzboote aus 2014 und 2015 wurden durch billige, aufblasbare Boote ersetzt, von denen man ausgeht, dass sie irgendwann von den Militärschiffen auf hoher See aufgespürt werden. Diese schockierend schlecht ausgestatteten Boote haben eine Tragödie nach der anderen verursacht. Die Teams von Ärzte ohne Grenzen haben Leichen von erstickten Menschen geborgen, von Menschen, die vom Gewicht hunderter Anderer in den Booten erdrückt wurden. Sie fanden Leichen, die am Boden eines Schiffes in einem giftigen Gemisch von Meerwasser und Benzin lagen.
# 3 - Schlepper sind skrupelloser denn je
Die Teams von Ärzte ohne Grenzen haben Boote kentern gesehen, nachdem sie Stunden oder sogar Tage ohne Motor ziellos auf dem Meer getrieben sind. Jene, die von uns gerettet wurden, sagten uns, dass sie tage- oder wochenlang in Kellern, Straßengräben oder Gruben festgehalten wurden, bevor sie auf ein Boot gezwängt und aufs Meer geschickt wurden. Wir haben Geschichten über Exekutionen, schreckliche Misshandlungen und sexuellen Missbrauch gehört, in manchen Fällen war es Folter. Im Gegensatz zu vergangenem Jahr haben wir weniger Menschen mit Rettungswesten, Nahrungsmitteln, Wasser, genügend Treibstoff und Ausrüstung für die Reise gesehen. Wir haben Rettungseinsätze in Wellen erlebt, zu jeder Tages- und Nachtzeit. Die Schlepper entsenden die Menschen in großen Flotten zu sonderbaren Uhrzeiten in der Hoffnung, dass sie Kontrollen entkommen oder dass, falls sie aufgegriffen werden, die Mehrheit gerettet wird. Unsichere Rettungseinsätze in der Nacht sind häufiger geworden, ebenso wie Tage, an denen ein einziges Rettungsschiff innerhalb von 24 Stunden auf mehr als 10 Notrufe reagieren musste.
# 4 – Hohe Anzahl an unbegleiteten Kindern wagen die Flucht allein
16 Prozent der Ankommenden, die nach Italien kommen, sind Kinder. 88 Prozent von ihnen sind unbegleitet. Eine kleine Familie, die von der Aquarius gerettet wurde, wurde von einem 10-jährigen Buben angeführt, der allein mit seinen Geschwistern unterwegs war, die noch so klein waren, dass sie Windeln trugen.
# 5 – Viele der von uns geretteten Frauen sind schwanger, oftmals ist die Schwangerschaft Folge einer Vergewaltigung
Manche der Babys werden glücklich erwartet und kommen nur während einer schweren Zeit auf die Welt. Viele andere sind die Folge einer Vergewaltigung in Libyen, entlang der Migrations- oder Fluchtroute oder in den Herkunftsländern. Viele Frauen, die wir retten, vor allem jene, die alleine reisen, erzählen furchtbare Geschichten von Vergewaltigung und sexuellem Missbrauch in Libyen. Viele andere sind so traumatisiert und haben Angst, dass sie während der kurzen Zeit, die sie bei uns an Bord sind, nicht darüber sprechen können. Die Gefahr, vergewaltigt zu werden, ist so hoch, dass sich manche Frauen vor der Reise Verhütungsmittel implantieren lassen, um nicht schwanger zu werden. Vier Babys sind 2016 auf den Rettungsschiffen von Ärzte ohne Grenzen zur Welt gekommen. Es grenzt an ein Wunder, dass sie rechtzeitig gerettet wurden, von Booten, auf denen erfahrene Hebammen waren. Man kann sich ausmalen, was passiert wäre, wenn die Wehen früher eingesetzt hätten oder wenn sie von Handelsschiffen ohne medizinisches Personal gefunden worden wären.
#6 – Ärzte ohne Grenzen hat nichts mit Schlepperei zu tun
Wir möchten sehr deutlich sein: Ärzte ohne Grenzen hat weder etwas mit Menschenschmuggel zu tun, noch sind wir Teil einer Anti-Schlepper-Operation. Wir sind am Mittelmeer unterwegs, um Leben zu retten, nicht mehr und nicht weniger. Schlepper beuten die Schwächsten aus; ihr Geschäftsmodell beruht zu einem guten Teil darauf, dass es keine legale Alternativen gibt für Menschen, die in Europa Schutz suchen. Die Krise in Libyen trägt maßgeblich zur Stärkung der Schleppernetzwerke bei.
#7 – Nicht nur Frauen und Kinder benötigen Schutz
Frauen und Kinder sind die Schwächsten und benötigen besonders viel Aufmerksamkeit und Hilfe. Doch auch Männer sind oft gefährdet, ihre Bedürfnisse werden jedoch leicht übersehen. Manche fliehen vor Kriegen, an denen sie nicht teilnehmen wollen, vor Folter, Zwangsrekrutierungen oder Menschenrechtsverletzungen. Andere werden in ihrer Heimat aufgrund ihrer Sexualität diskriminiert, flüchten vor Gewalt, Verfolgung, extremer Armut und Not. Sie stammen aus Ländern wie Pakistan, Nigeria, Gambia, Eritrea oder aus dem zerrütteten Nahen Osten.
#8 – Europa ist keineswegs Hauptziel für Flüchtende und Migranten
Die allermeisten Flüchtlinge, Migranten und Migrantinnen suchen Schutz oder Arbeit in ihrer Herkunftsregion. Die Hauptaufnahmeländer von Flüchtlingen sind die Türkei, Pakistan, der Libanon, der Iran, Äthiopien, Jordanien, Kenia, Uganda, die Demokratische Republik Kongo und der Tschad – kein einziges davon liegt also in Europa (Quelle: UNHCR). Insgesamt bieten diese Länder mehr als der Hälfte aller Flüchtenden weltweit Schutz. Europa hat nur einen sehr geringen Prozentsatz der Flüchtenden aufgenommen, dennoch konzentriert es sich weiterhin darauf, die Menschen möglichst fernzuhalten.
# 9 - Flüchtlinge und Migranten erleben furchtbare Gewalt und Missbrauch in Libyen
Was auch immer die Gründe für ihren Aufenthalt in Libyen sind, aufgrund der Gewalt und Misshandlung, die Flüchtende und Migranten dort erleiden, müssen sie das Land verlassen. Angaben zufolge, die unsere Teams erhalten haben, leiden Männer, Frauen und zunehmend auch unbegleitete Kinder (manche von ihnen sind erst 8 Jahre alt), die in Libyen leben oder das Land durchqueren, unter Missbrauch von Schleppern, bewaffneten Gruppen und privaten Individuen, die die Verzweiflung jener ausnützen, die vor Konflikt, Verfolgung oder Armut fliehen. Die berichteten Misshandlungen beinhalteten Gewalt (einschließlich sexueller Gewalt), Entführungen, Arrest unter unmenschlichen Bedingungen, Folter und andere Formen von Missbrauch sowie finanzielle Ausbeutung und Zwangsarbeit.
# 10 – Das Abfangen von Booten beim Verlassen Libyens ist keine Lösung
Hält man Menschen davon ab, Libyen zu verlassen, verdammt man sie dazu, schlecht behandelt zu werden sowie zu physischem, sexuellem, finanziellem und psychologischem Missbrauch durch Schlepper. Von der libyschen Küstenwache wird gemäß dem Trainingsplan, der von der Europäischen Union initiiert wurde, erwartet, dass sie künftig in Such- und Rettungsaktionen eine Schlüsselrolle spielen und die Menschen abfangen. Unsere Erfahrung zeigt, dass das Abfangen von überfüllten und nicht seetauglichen Booten gefährlich ist und die Menschen noch höheren Risiken ausgesetzt sind, wenn die Rettung nicht in ruhiger Manier erfolgt. Die aktuelle Situation in Libyen bedeutet, dass es keinen sicheren Hafen gibt, in dem die Menschen Asyl beantragen können und Schutz finden.
... und aktuell?
Stand: 5.Dezember 2016: Die von Ärzte ohne Grenzen betriebenen „Bourbon Argos“ und „Dignity I“ liegen angesichts der wegen des Winters rückläufigen Zahl der Überfahrten seit Ende November in europäischen Häfen in Bereitschaft. Die zusammen mit SOS Méditerranée betriebene „Aquarius“ setzt die Seenotrettung vor der libyschen Küste über den Winter fort. Ab März werden wieder alle drei Schiffe im Einsatz sein.